Bretagne head
Montag, 25. März 2013
Tag 3: Oostduinkerke - Samer

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Tag 3: 24.03.2013

Heute Morgen bin ich recht spät losgekommen. Schuld war meine Wäsche, die einfach nicht trocken werden wollte. Gestern Abend hatte ich die Radklamotten von Hand gewaschen und anschließend im Juhe-Trockner zu trocknen. Insgesamt lief der Trockner dreimal durch, und befand sich immer noch Restfeuchte in den Sachen. Ich war gestern so geschafft und hatte keinen Bock mehr nach der Handwäsche das Wasser noch groß auszuwringen. Ich hatte mich zu sehr auf den Trockner verlassen. Pustekuchen. Ich hätte doch auswringen sollen. Ich erhielt die Sachen doch schon fast trocken. Die Restfeuchte bekam ich fast ganz heraus, indem ich ein großes Handtuch nahm, die Sachen großflächig darauf verteilte, und das Handtuch danach eng zusammenrollte. Das wiederholte ich ein paarmal. Ein echt guter Trick, um Sachen schneller wieder trocken zu bekommen. Ich spürte bei manchen Teilen immer noch etwas Feuchte. Damit ich nicht frieren musste, zog ich die Schichten diesmal in einer anderen Reihenfolge an. Frische Sachen kamen direkt auf die Haut. Erst darüber kamen dann die Thermounterwäsche und die anderen langärmeligen Sachen. Sicherheitshalber habe ich ein, zwei Trikots mehr übergezogen. Keine Ahnung wie viele Schichten ich nun auf mir hatte. Ich kam mir jedenfalls ziemlich unbeweglich und wie ein Michelin-Männchen vor.

Das ganze Theater mit der Wäsche hat wertvolle Zeit gekostet. Ich komme erst gegen 10:30 Uhr aus der Juhe.

Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte sich mittlerweile fast ganz aufgelöst. Da auch kein Wind wehte, kam mir die Temperatur erträglich vor. Heute geht’s nach Frankreich. Erst geht’s nach Calais, und danach auf einer abgekürzten Route Richtung Le Treport. Le Treport werde ich nicht erreichen, das ist mir bereits am Morgen klar. Aber mal schauen wie weit ich komme. Ich muss flexibel die Routen verändern. Es gibt einfach zu viele Faktoren, die immer wieder meine geplanten Routen durcheinander bringen können.

Die erste größere Stadt in Frankreich, Dunkerque, erreiche ich nach etwa 30 km. Ich versuche mir die Bedeutung dieses Ortsnamens klar zu machen. Aus den Niederlanden weiß ich, dass „Kerk“ auf deutsch Kirche heißt. In ganz Nordwest-Belgien, wo ich durch fuhr, wurde niederländisch gesprochen (oder abgewandelter Dialekt). Da liegt es nahe, dass in diesem Teil Frankreichs, so nahe an der belgischen Grenze auch noch starker niederländischer Einfluss, zumindest sprachlich, herrscht. „Kerque“ muss also wohl auch Kirche heißen, von der Schreibweise eben einfranzösischt. Was könnte dann noch „Dun“ bedeuten? Ich tippe auf „Düne“ oder „Dünn“. Beides würde Sinn machen. Meine selbst hergeleitete Übersetzung lautet damit: Dünnkirchen. Wie ich später erfahre, stimmt das sogar.

Ich überlege mir weiter, dass der niederländische Einfluss hier entlang der Nordseeküste historisch wohl erheblich gewesen sein muss. Die sprachlichen Überlieferungen und Ähnlichkeiten lassen das vermuten.
Es ist schon interessant was man alles herleiten kann und wie man die lokale Geschichte erahnen kann, wenn man auf solche Kleinigkeiten wie auf Ortsnamen genauer achtet. Ich bin auf den historischen Spuren der Niederländer. :-)

Die Fahrt geht weiter nach Calais. Ich stelle mir vor, dass Calais eine besondere Stadt sein muss. Von hier geht der Eurotunnel durch den Ärmelkanal hinüber nach England. London ist nicht mehr weit. Wenn ich wöllte, könnte ich ja mal nach good old Britain herüberschwenken. Ich bräuchte nur die Fähre oder den Eurotunnel nehmen. Doch das liegt nicht auf meinem Plan. Daher muss das entfallen. Zu Calais fallen mir auch Filmfestspiele ein, die alljährlich hier stattfinden. Die Stadt muss daher besonders sein.

Rathaus von Calais
Rathaus von Calais

Vielleicht ist sie das ja, wenn nicht gerade Sonntag wäre. Eine todlangweilige Stadt. Die Bürgersteige sind hochgeklappt. Fast nichts hat geöffnet. Ich habe Mühe ein geöffnetes Café zu finden. Ich frage drei Passanten nach einem solchen: „Pardon, un café, ici?“ Sie haben mich wohl nicht verstanden. Denn jeder weist mich in eine Richtung, in der es weit und breit kein geöffnetes Café gibt. Ich gebe die Suche auf. An einer Straßenecke bin ich froh überhaupt einen geöffneten Becker zu finden. Ich gehe hinein und mache ein kleine Pause. Ich esse zum Kaffee eine Makrone. Herrlich, wie gut diese schmeckt. Die Franzosen verstehen was von Konditorei.

Ich mache mich wieder auf den Weg. Calais hake ich als kleine Enttäuschung ab. Vielleicht sollte ich mit weniger oder keinen Erwartungen herangehen, dann kann ich schon nicht enttäuscht werden. Einfach so annehmen wie es ist und sich bedanken es so aufgefunden zu haben. Ein bisschen mehr Bescheidenheit eben.

Ich beschließe jetzt nicht am Meer entlang zu fahren, um einige Kilometer zu sparen. Es geht direkt nach Süden durch das Landesinnere. Bikemap hatte mir diese kürzere Route nicht angezeigt. Dafür Googlemaps. Nach wenigen Kilometern wird mir auch klar warum. Es fängt an leicht bergig zu werden. Klar, dass eine Fahrradroutenseite versucht solche Routen zu meiden. Solche Programme haben ja doch mehr Intelligenz als man so denkt.

Der Anstieg ist doch recht spürbar. Mir wird warm. Mir wird sogar sehr warm. Mir wird äußerst warm. Ich kann nicht anders, ich muss Mütze und Kaputze abnehmen, sonst überhitze ich. Immerhin habe ich etliche Schichten Klamotten noch an. Ich ziehe die Handschuhe aus. Ich öffne den Kragen. Wenn ichs nicht besser wüsste, könnte ich meinen ich radele gerade in Spanien in der Hitze. Doch ich bin nach wievor in Nordfrankreich, und es hat weiter um die 0 Grad.

Mir ist durch den Anstieg richtig warm geworden. Die Abkühlung durch den leichten Fahrtwind tut echt gut. Ich fahre eine ganze Weile so weiter. Dann kommt langsam wieder Wind auf, und ich erinnere mich, dass ich ja total verschwitzt bin. Ich will mir keine Erkältung einholen und setze die Kaputze wieder auf. Das war wohl eine sehr gute Entscheidung. Denn kurze Zeit darauf geht es eine längere Strecke nur noch bergab.

Ich wundere mich über die lange Abfahrt. Soweit kann ich doch gar nicht geklettert sein, dass es nun solange bergab geht. Schließlich bin ich bei Calais von Meereshöhe gestartet. Anscheinend habe ich doch einige Höhenmeter erklummen. Die Abfahrt zieht sich hin. Mir kanns recht sein. So muss ich nicht so viel strampeln, und es kommt Abwechslung herein. Ich stelle für mich fest, dass ich doch lieber Hügel und Berge fahre als immer nur auf dem Flachland. In den Bergen gibt es einfach mehr Abwechslung. Nach einem Anstieg kommt immer ein entsprechender Downhill. Und das macht ganz besonders viel Spaß. Immer wieder von Neuem.

In diesem hügeligen Land sind die Orte dünn gesäht. Mir geht das Wasser langsam aus. Zudem will ich wieder mal eine kleine Pause einlegen. Ich halte Ausschau nach einer kleinen einheimischen Kneipe. Und in einem unscheinbaren Örtchen finde ich auch solch eine. Ich gehe hinein. Hey, sieht es da urig aus. Mitten im Raum sitzen mehrere ältere Leute und unterhalten sich blendend. Die ältere Dame am Tresen hat eine sehr rote Knollennase. Solch rote Nasen stellt man sich eher bei betrunkenen Obdachlosen vor. Die Dame ist jedoch weder obdachlos, noch wirkt sie betrunken. Vielleicht ist das ja auch nur eine Krankheit. Ich schaue sie mir an und denke, dass ihr Mann wohl vor längerer Zeit verstorben sein muss. Weiter in die Richtung will ich allerdings nicht nachdenken. Sie wirkt auf mich auf jeden Fall wie ein Original. Und das macht sie irgendwie liebenswert, auch wenn ich noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt habe.

Ich bestelle mir einen Kaffee. Während ich diesen genieße, sprechen mich die Herrschaften vom Nachbartisch an. Ich versuche zu erklären, dass ich kein französisch spreche. Sie wollen dennoch einiges über mich erfahren. Ich krame meine wenigen Brocken französisch heraus und versuche zu erklären. „Me no francais, allemand!“ Sie nicken. Sie fragen etwas mit „velo“ und zeigen nach draußen. Ich antworte: „Oui, oui, je vacance en velo“. Die Augen weiten sich erstaunt. Sie fragen noch irgendetwas. Ich sage: „Start en Rotterdam, Nederland, et vacance en Bordeaux.“ Sie staunen. Ich sage: „En total deux mille kilometre“. Sie kommen aus dem Staunen nicht heraus. „Deux mille?“ - „Oui, oui, deux mille kilometre.“ Sie schütteln ungläubig den Kopf. Ich weiter: „Je aime vacance en velo“. Sie lachen. Ich weiter: „Je visite le Normandy et la Bretagne“. Die eine Frau fragt: „Oh, le Normandy. Vous visite les plages en Normandy.“ Ich antworte: „Oui, oui, je visite les plages fameuse en Normandy“ und lache. Der eine Mann fragt mich: „Et vous profession?“ - „La profession est ingenieur mechanique. Est ici est mon vacances.“ Sie geben staunende anerkennende Laute von sich. „Bien, bien. Trebien“, sagt der Mann und hebt den Daumen.
Ich lächele und bin überrascht, dass die Leute mich wohl verstehen, obwohl ich kein Französisch spreche.

Als ich gehen möchte, wollen die Leute noch etwas unbedingt von mir wissen. Ich verstehe nicht was sie fragen. Nach einigen Handbewegungen, kapiere ich, dass sie wissen wollen wie alt ich bin. Wie sage ich das jetzt in französisch? Ich denke an meinen Spanisch-Kurs, den ich derzeit daheim besuche. Da haben wir vor einigen Wochen die Zahlen gelernt. Dreißig heißt auf spanisch „trenta“ und vier „cuatro“. In der Hoffnung, dass das Spanische und das Französische irgendwelche Ähnlichkeit haben, sage ich gestottert: „Trante en quatre“. Sie scheinen mich verstanden zu haben und äußern die typischen französischen staunenden Oh-Laute: „Oh, oho, ohooo. Trante en quatre. Bien, bien.“

Vor der Türe begutachten sie mein Rad. Sie versuchen fachmännisch mein Rad zu betrachten und prüfen den Reifendruck. Das machen immer nur Leute, die von Fahrrädern eigentlich gar keine Ahnung haben. Der Reifendruck sagt über die Qualität eines Rades nahezu gar nichts aus. Ich lächele verlegen über deren Ahnungslosigkeit und sage bestätigend: „Est velo sportive, en roquette.“. Sie verziehen die Mundwinkel nach unten und nicken langsam anerkennend: „Velo professionelle“. Ich lächele über diese nette ältere Runde und bedanke mich: „Merci beaucoup!“

Das war eine amüsante Unterhaltung. Auf der Weiterfahrt denke ich über die Ähnlichkeiten der verschiedenen Sprachen nach und wie sie kulturell und historisch wohl zusammenpassen. Ich selbst spreche deutsch, englisch und russisch und bin derzeit auch am Lernen von spanisch. In Spanien heißt Fahrrad „bicicletta“. „Bi“ steht für zwei, und „cicletta“ hat Ähnlichkeit mit dem englischen „cycle“ für Kreis oder Rad. Im Spanischen sagt man also wörtlich „Zweirad“. Im Russischen heißt Fahrrad „velociped“. Darin enthalten die Worte „velo“, eine Kurzform des englischen „velocity“ für Geschwindigkeit, und „ped“, aus dem Lateinischen für Fuß. Wörtlich übersetzt heißt „velociped“ also nichts anderes als „schnell zu Fuß“. Und die Franzosen verwenden ausgerechnet für Fahrrad eine Abkürzung aus dem Russischen! Was für eine seltsame Verbindung. Was haben denn das Russische und das Französische gemeinsam? Kulturell sind beide Sprachen äußerst verschieden. Und historisch? Hmm, da fällt mir nur Napoleon ein, als er bis vor die Tore Moskaus gekommen ist und nicht weiter. Vielleicht haben die Franzosen damals den einen oder anderen Sprachfetzen aus dem Russischen mitgebracht? Wer weiß schon Genaueres?

Ja, während dem Radfahren hat man viel Zeit zum Nachdenken. Sehr viel Zeit. So viel Zeit, dass man solch absurde Gedanken anstellt. Diese sind aber so lustig, dass ich immer wieder darüber selbst lächeln muss.

Ich fahre noch ein paar Kilometer. Bei Samer suche ich eine Unterkunft. Ich scheue mich nicht auch bei einzelnen Häusern zu läuten. Ich entschuldige mich höflich für die Störung, erkläre dass ich kein französisch spreche, und dass ich einer Möglichkeit zur Übernachtung in der Nähe suche. Auch hier werde ich verstanden. Hilfsbereit wird mir geholfen. Ein Bewohner fuchtelt mit den Armen in der Luft und sagt: „un moment“. Er rennt zum Telefon und wählt eine Nummer. Nach wenigen Minuten kommt seine Frau heraus zu mir und erklärt mir auf englisch, dass ihr Mann gerade bei einer nahegelegenen Bead-and-Breakfast-Unterkunft angerufen habe und von mir, einem armen Radfahrer auf der Suche nach einem Schlafplatz, erzählt habe. Die Besitzerin sei nun informiert und erwartet ich bereits. Es sei bloß 700 Meter entfernt. Ich lasse mir den Weg dorthin erklären. Dort angekommen wartet bereits die Besitzerin vor der Haustüre auf meine Ankunft. Mensch, wie herzlich.

Sie zeigt mir das Zimmer und die Waschräume. Sie setzt mir noch einen Tee auf und unterhält sich ein wenig mit mir in einer Mischung aus französisch und englisch. Bei der Preisauskunft sagt sie, da ich ihr so sympathisch sein und bei diesen Temperaturen mit dem Fahrrad unterwegs sei, käme sie mir im Preis entgegen. Ich bedanke mich recht herzlich.

Ich wasche wieder meine Radklamotten. Aber diesmal wrinke ich sie aus. Dann wende ich noch meinen Handtuch-Trick an und hänge die feuchte Wäsche auf zwei warmen Heizungen zum Trocknen auf.

Ich schreibe noch an meinem Tagesbericht und lege mich dann schlafen.

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Als jemand, der ohne nennenswertes Gepäck immer nur ein paar Stunden um seinen Wohnort herumpedaliert, lese ich Ihre Berichte sehr interessiert.

Bei diesen Temperaturen ist die Klamottenfrage wirklich ein Dauerbrenner. Sich einerseits so einzupacken, um die Kälte außen vor zu halten und andererseits nicht von innen her alles vollzusaften, wenns mal bisschen anstrengender wird im Gegenwind oder bei Anstiegen, ist immer wieder eine Herausforderung.

Ihnen weiterhin gute Fahrt!

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